Es war einmal ein Land, das auf keiner Landkarte verzeichnet war – das Land der Immergrüns. Dieses geheimnisvolle Reich war berühmt für seine Wälder, in denen die Bäume niemals ihre Blätter verloren, für Flüsse, die nie versiegten, und für Bewohner, die stets auf der Suche waren: nach dem Glück.
Inmitten dieses Landes lebte ein Mädchen namens Liora. Sie war mutig, klug und voller Sehnsucht. Seit ihrer Kindheit träumte sie von einem Leben auf dem Sonnenhügel, einem sagenumwobenen Ort am Rand des Immergrüns. „Wenn ich dort bin“, sagte sie sich immer wieder, „dann werde ich glücklich sein.“ Denn der Sonnenhügel, so erzählte man, erfülle einem jeden Wunsch – und dort, so glaubte Liora, würde sie endlich die Ruhe finden, die sie suchte.
Viele Jahre lang bereitete sich Liora auf ihre Reise dorthin vor. Sie studierte alte Karten, lernte Entscheidungen schnell zu treffen, ließ sich nicht mehr aufhalten von Zweifeln oder der Meinung anderer. Schließlich schnürte sie ihren Rucksack, nahm ein Notizbuch mit – für Erkenntnisse unterwegs – und machte sich auf den Weg.
Der Weg war lang und oft regnete es. Doch das störte Liora nicht, denn sie erinnerte sich: Regen war immer besser als Stillstand.
Unterwegs begegnete sie einem alten Mann, der unter einem Baum saß und lachend mit Ameisen sprach. „Warum eilst du so, junges Mädchen?“, fragte er.
„Ich bin auf dem Weg zum Glück“, sagte Liora. „Ich muss nur noch diesen Hügel erreichen, dann wird alles gut.“
Der Mann nickte langsam. „Ach, der Sonnenhügel. Viele suchen
ihn. Weißt du... auch ich war einst auf dem Weg dorthin.“
„Und
hast du ihn gefunden?“
„Oh ja“, sagte er lächelnd, „aber
nicht dort, wo ich ihn erwartet hatte.“
Verwirrt, aber unbeirrt setzte Liora ihren Weg fort. Tage wurden zu Wochen, und endlich stand sie auf dem Sonnenhügel. Die Aussicht war atemberaubend, das Licht goldgelb, der Wind weich wie Seide. Und doch... nichts geschah. Kein Wunder, kein Gefühl der Vollkommenheit. Nur eine leise Enttäuschung, ein Gefühl von Leere.
Sie setzte sich auf den Boden, holte ihr Notizbuch hervor und schrieb:
„Ich habe bekommen, was ich wollte – und doch... fehlt etwas.“
Da erinnerte sie sich an die Geschichte der alten Frau aus dem Dorf, die einst zu ihr sagte: „Manche suchen ihr ganzes Leben nach etwas, das sie bereits besitzen. Sie tragen das Glück in sich, erkennen es aber erst, wenn sie aufhören zu rennen.“
In diesem Moment fiel Liora auf, dass sie auf ihrer Reise so vieles erlebt hatte: das Lachen mit einem Fischer, das wärmende Brot einer alten Bäckerin, der Gesang der Nachtvögel. Alles war da gewesen – das Glück war unterwegs bei ihr gewesen, nicht am Ziel.
Tränen stiegen ihr in die Augen. Nicht vor Trauer, sondern vor Dankbarkeit.
Sie schrieb:
„Glück ist nicht der Sonnenhügel. Es ist, barfuß durch Regen zu laufen. Es ist, eine warme Stimme zu hören. Es ist, zu atmen, zu lachen, zu fühlen – jetzt.“
Von diesem Tag an führte Liora jeden Morgen ein kleines Buch, in das sie schrieb, wofür sie dankbar war. Für jeden Sonnenstrahl, für jedes Lächeln, für jedes Lied, das der Wind ihr zuflüsterte. Und je mehr sie notierte, desto mehr schien das Leben ihr zu schenken. Die Farben wurden intensiver, die Stille friedlicher, ihr Herz leichter.
Liora blieb auf dem Hügel. Nicht weil er magisch war, sondern weil sie ihn verwandelt hatte – in einen Ort der Achtsamkeit, der Erinnerung daran, dass Glück keine Belohnung ist, sondern eine Entscheidung.
Und das Land der Immergrüns? Es wurde von jenem Tag an ein bisschen heller. Denn jedes Mal, wenn jemand innehielt, den Moment betrachtete und lächelte – war es, als wäre Liora ganz in der Nähe.