Montag, 19. Mai 2014

Vom Geben

(Khalil Gibran)


Du gibst nur wenig,
wenn du von deinem Besitz gibst.
Erst wenn du etwas von dir selbst gibst,
gibst du wirklich.

Denn was ist dein Besitz anderes als etwas,
das du bewahrst und bewachst aus Angst,
dass du es morgen brauchen könntest?

Und was ist die Angst vor der Not anderes als Not.
Ist nicht Angst vor Durst, wenn der Brunnen voll ist,
ein Durst, der unlöschbar ist?

Es gibt jene,
die von dem Vielen, das sie haben, wenig geben
- und sie geben um der Anerkennung willen,
und ihr verborgener Wunsch verdirbt ihre Gaben.

Und es gibt jene,
die wenig haben und alles geben.
Das sind die, die an das Leben
und die Fülle des Lebens glauben,
und ihre Hände sind nie leer.

Es gibt jene, die mit Freude geben,
und die Freude ist ihr Lohn.

Es gibt jene, die mit Schmerzen geben,
und der Schmerz ist ihre Läuterung.

Und es gibt jene, die geben
und keinen Schmerz beim Geben kennen;
weder suchen sie Freude dabei,
noch geben sie um der Tugend willen;
sie geben, wie im Tal dort drüben
die Blume ihren Duft verströmt.
Durch ihre Hände spricht das Gute,
und aus ihren Augen lächelt es auf die Erde.

Es ist gut zu geben, wenn man gebeten wird,
aber besser ist es, wenn man ungebeten gibt,
aus Verständnis.

Gibt es etwas, das du zurückhalten wirst?

Alles, was du hast, wird eines Tages gegeben werden;
daher gib jetzt, damit die Zeit des Gebens deine ist.

Du sagst oft:
"Ich würde geben, aber nur dem, der es verdient."
Die Bäume in deinem Obstgarten reden nicht so.

Sie geben, damit sie leben dürfen,
denn zurückhalten heißt zugrunde gehen.
Sicher ist der, der würdig ist,
seine Tage und Nächte zu erhalten,
auch alles andere von dir würdig.

Und der, der verdient hat,
vom Meer des Lebens zu trinken,
verdient auch, seinen Becher
aus deinem Bache zu füllen.

Und welcher Verdienst wäre größer
als der Mut und das Vertrauen,
ja auch die Nächstenliebe,
die im Empfangen liegt?

Und wer bist du,
dass die Menschen sich die Brust zerreißen
und ihren Stolz entschleiern sollten,
damit du ihren Wert nackt und ihren Stolz entblößt siehst?
Sieh erst zu, dass du selber verdienst,
ein Gebender und ein Werkzeug des Gebens zu sein.

Und du, der du empfängst -
und wir sind alle Empfangende -,
bürde dir nicht die Last der Dankbarkeit auf,
damit du nicht dir und dem Gebenden ein Joch auferlegst.

Steig lieber zusammen mit dem Gebenden
auf seinen Gaben empor wie auf Flügeln,

denn bist du dir deiner Schuld zu sehr bewusst,
heißt das, die Freigebigkeit desjenigen zu bezweifeln,
der die großherzige Erde zur Mutter und Gott zum Vater hat.

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