Samstag, 28. Juni 2025

„Ertragt einander in Liebe“ – eine Einladung zu echter Menschlichkeit

Es gibt Bibelverse, die klingen im ersten Moment wie eine stille Mahnung – fast ein wenig streng. „Ertragt einander in Liebe“ (Epheser 4,2) ist so einer. Wer sich nur auf das Wort „ertragen“ konzentriert, hört vielleicht eine mühsame Aufforderung: Halte die anderen aus, nimm sie hin, auch wenn sie dich nerven oder verletzen. Doch wer tiefer lauscht, spürt: Dieser Satz will viel mehr. Er will unser Miteinander menschlich machen. Und unser Verhältnis zu uns selbst auch.

Denn „in Liebe ertragen“ meint nicht ein bloßes Aushalten. Es meint: Mit einem wohlwollenden Blick auf den anderen sehen – selbst dann, wenn er gerade nicht ideal ist. Es heißt: sich nicht über die Fehler der anderen zu stellen, sondern zu erkennen, dass wir alle auf dem Weg sind. Dass wir manchmal unbequem sind. Und dass Liebe kein Gefühl ist, das nur auftaucht, wenn alles schön und leicht ist – sondern eine Haltung, die besonders in schwierigen Momenten sichtbar wird.

Doch dieser Vers richtet sich nicht nur auf das Du. Er meint auch das Ich.

Wie oft sind wir mit anderen nachsichtig – und mit uns selbst gnadenlos? Wie schnell verurteilen wir uns für unsere Schwächen, für unser Zögern, unsere Müdigkeit? „Ertragt einander in Liebe“ darf auch heißen: Ertrage dich selbst in Liebe. Trage deine Widersprüche, deine Zweifel, deine alten Verletzungen mit derselben Geduld, die du einem geliebten Menschen entgegenbringst. Du bist ein Mensch auf dem Weg – nicht weniger wertvoll, weil du manchmal fällst.

Liebevoll mit anderen zu sein heißt, ihnen Raum zu geben. Nicht alles gutzuheißen, aber nicht gleich zu verurteilen. Es heißt, zwischen den Zeilen zu lesen: Woher kommt dieser Tonfall, dieses Verhalten? Was mag den anderen gerade innerlich bewegen? Und genauso dürfen wir uns fragen: Was bewegt mich? Wo habe ich mich selbst aus den Augen verloren? Wann habe ich zuletzt liebevoll mit mir gesprochen?

Doch was bedeutet „einander ertragen in Liebe“, wenn eine Beziehung nicht mehr von gegenseitigem Respekt getragen – sondern von massiven Schwierigkeiten gekennzeichnet ist, wenn Worte verletzen, wenn Nähe zur Belastung wird, wenn der Alltag nur noch ein Balanceakt ist zwischen Anpassung und innerem Verstummen?

Dann ist es wichtig, diesen Vers nicht falsch zu verstehen. In Liebe ertragen bedeutet nicht, sich selbst aufzugeben. Es bedeutet nicht, sich dauerhaft Bedingungen auszusetzen, die die eigene Seele klein machen. Liebe ist kein Mantel, unter dem man alles zudecken muss – sie ist auch eine Kraft, die schützt. Eine Kraft, die klar sagen darf: „So kann es nicht bleiben. Ich achte dich – aber ich muss auch mich achten.“

Liebevoll zu sein, heißt manchmal auch, Grenzen zu ziehen. Nicht aus Härte, sondern aus Sorge. Nicht, weil man weniger liebt, sondern weil man verstanden hat: Eine gesunde Beziehung braucht zwei Menschen, die sich gegenseitig in ihrer Würde bewahren.

Wenn du dich in einer Beziehung wiederfindest, in der du dich über lange Zeit klein, verunsichert oder innerlich leer fühlst – dann ist es kein Verrat an der Liebe, aufzustehen, nicht laut, nicht hastig, sondern behutsam, Stück für Stück. Es ist ein Schritt in Richtung Heilung, im Idealfall für beide. 

Manchmal bedeutet „einander ertragen in Liebe“ auch: Loslassen in Liebe. Den Mut zu haben, neue Wege zu gehen. Und sich nicht schuldig zu fühlen, wenn man spürt, dass man dabei zuerst sich selbst wiederfinden muss.  Selbst die Bibel ruft nicht dazu auf, Leid schweigend zu ertragen, wenn es zerstörerisch ist. Jesus selbst zieht sich zurück, wenn Menschen ihn in böser Absicht bedrängen (z. B. Johannes 10,39). Paulus verlässt Städte, wenn er verfolgt wird. Die Bibel unterscheidet zwischen dem Tragen der Lasten des Alltags und dem Aushalten von zerstörerischem Verhalten.

Im Phantasie-Garten darf Liebe vieles sein – sanft, geduldig, tröstend, aber sie darf auch stark sein, klar und ehrlich. Und manchmal bedeutet das eben auch: aufzuhören, sich selbst auf später zu vertrösten. Dein Leben passiert jetzt.

Auch du bist es wert, in Liebe getragen zu werden – nicht nur von anderen, sondern auch von dir selbst.

Ein letzter Gedanke:
Manchmal hilft es, sich ganz still zu fragen: „Würde ich auch meinem besten Freund – oder meiner besten Freundin, meinem Bruder, meiner Schwester, ... – raten stillschweigend, in dieser Situation zu bleiben und diese einfach nur auszuhalten und zu erdulden? Oder würde ich ihn ermutigen, langsam, aber beständig aufzustehen, sich selbst mit neuen Augen zu sehen – als Teil des Wunders des Lebens, das nicht dazu gedacht ist, leise zu verkümmern, sondern echte Liebe zu erfahren und in Liebe zu wachsen?“
Die Antwort auf diese Frage offenbart oft, wie liebevoll wir wirklich mit uns selbst umgehen.


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