Samstag, 3. Mai 2025

Die Stadt der ungestellten Fragen

Eine Geschichte über das mutige Bitten und das kindliche Staunen

Es war einmal ein kleines Mädchen namens Mali, das mit großen, neugierigen Augen durch die Welt ging. Mali lebte in einer besonderen Stadt – einer Stadt, in der fast nie jemand laut fragte, was er sich wirklich wünschte. Die Erwachsenen in dieser Stadt waren freundlich, arbeiteten fleißig und gaben sich Mühe, niemandem zur Last zu fallen. Doch ihre Gesichter wirkten oft grau und müde, als hätten sie etwas verloren – oder nie wirklich gefunden.

Mali aber war anders. Wenn sie etwas wissen wollte, fragte sie. Wenn sie etwas wollte, sagte sie es. Wenn sie einen Wunsch hatte, rief sie ihn in die Welt hinaus – sei es ein drittes Stück Kuchen, eine Geschichte vor dem Einschlafen oder einmal auf dem Rücken eines echten Elefanten zu reiten. Ihre Eltern lächelten oft verlegen, wenn Mali vor Fremden rief: „Kann ich das haben? Darf ich das mal ausprobieren?“ Und wenn sie einen Wunsch äußerte, der besonders groß war, flüsterten sie: „Mali, das ist nicht möglich. So etwas fragt man nicht.“

Doch Mali hörte nicht auf. Sie hatte gehört, dass Wünsche nur dann eine Chance hatten, gehört zu werden, wenn man sie aussprach. Also fragte sie weiter – laut, leise, frech, liebevoll.

Eines Nachts – der Himmel war wolkenverhangen, und nur ein einziger Stern funkelte hell – wurde Mali von einer Stimme geweckt. Sie war zart und klang, als käme sie aus einem ganz anderen Teil der Welt. Oder aus einem sehr alten Buch.

„Mali“, sagte die Stimme, „du bist eingeladen in die Stadt der Erfüllung. Dort geschieht alles, was mutig genug gefragt wird.“

Neugierig wie sie war, stand Mali auf, zog sich ihre roten Gummistiefel über und folgte dem Licht des Sterns, der sich langsam über die Dächer bewegte. Er führte sie zu einem Tor, das nur zu sehen war, wenn man eine Frage im Herzen trug.

„Darf ich durchgehen?“, flüsterte Mali.

Das Tor öffnete sich.

Drinnen war es märchenhaft: Bäume trugen Früchte, die Geschichten erzählten. Tiere sprachen. Kinder lachten. Und in der Mitte stand ein großer goldener Brunnen – der Brunnen der echten Wünsche.

Ein alter Mann mit silbernem Bart saß daneben. „Nur wer fragt, erhält eine Antwort“, sagte er.

Mali warf ihren Wunsch hinein: „Ich möchte, dass die Erwachsenen in meiner Stadt wieder fragen lernen. Dass sie sagen, was sie sich wünschen – laut und ohne sich zu schämen.“

Der alte Mann nickte. „Ein mutiger Wunsch. Aber du musst ihnen zeigen, wie es geht.“

Am nächsten Morgen wachte Mali in ihrem Bett auf. Sie war sich nicht sicher, ob sie geträumt hatte. Aber etwas hatte sich verändert.

Als sie am Frühstückstisch sagte: „Ich wünsche mir, dass wir heute alle barfuß tanzen!“, lachten ihre Eltern – und taten es.

Als sie im Park eine Frau fragte: „Was wünschen Sie sich ganz tief im Herzen?“, wurde diese ganz still. Dann antwortete sie: „Ich glaube... ich wünsche mir, noch einmal zu malen.“

Und als Mali begann, Menschen in ihrer Stadt jeden Tag eine einzige Frage zu stellen – „Was wünschen Sie sich wirklich?“ – begannen die Farben zurückzukehren. Die grauen Gesichter hellten sich auf. Manche lachten. Manche weinten. Manche fingen an zu träumen.

Und einige, die besonders mutig waren, begannen wieder zu fragen.


Moral der Geschichte:
Wünsche sind keine Last. Fragen sind keine Schwäche. Wer nicht fragt, bleibt stumm im Herzen. Doch wer sich traut, laut zu wünschen, erinnert andere daran, dass sie auch einmal Kinder waren.