Dienstag, 6. Mai 2025

Die Geschichte vom Goldbaum

Tief verborgen im Tal der Entschlossenen wuchs ein Baum, den niemand pflanzen konnte und den keiner gießen musste. Die Alten nannten ihn den
Goldbaum. Doch nicht etwa, weil seine Früchte aus echtem Gold bestanden – nein, sondern weil die, die es schafften, eine Frucht von ihm zu pflücken, ihr eigenes inneres Gold entdeckten.

Der Baum aber stand nicht einfach so da, greifbar und bequem wie ein Apfelbaum am Wegesrand. Nein, der Goldbaum wuchs auf dem höchsten Gipfel des Sturmhorns, eines schroffen Berges, den Wolken oft wie ein Mantel umhüllten. Der Weg dorthin war beschwerlich, durch Dornenwälder, über schwindelerregende Hänge und durch die Wüste der Zweifel.

Viele hatten sich auf den Weg gemacht. Einige gaben auf, als die ersten Dornen ihre Haut ritzten. Andere kehrten um, als der Hunger kam oder das Heimweh. Und wieder andere versuchten, den Berg zu besteigen, ohne die Kraft ihrer Beine – getragen von Wünschen, aber nicht vom Willen.

Eines Tages machte sich ein junger Träumer auf den Weg. Er trug keine glänzende Rüstung, hatte keine Karte in der Hand – nur ein Herz, das wusste, dass es mehr geben musste als das bequeme Leben im Schatten. „Ich will die Frucht des Goldbaums kosten“, sagte er. „Ich will wissen, wozu ich wirklich fähig bin.“

Auf der Reise war nichts, wie er es sich vorgestellt hatte. Der Wind spottete. Die Nächte waren einsam. Und der Boden unter seinen Füßen schien oft zu schreien: Kehr um!
Doch er zahlte den Preis.
Er verzichtete auf Bequemlichkeit.
Er trug die Stille, die Müdigkeit, den Zweifel.
Er fiel – und stand wieder auf.
Er schwitzte – und ging weiter.
Und manchmal, ganz selten, kam ein Vogel und sang ihm ein Lied ins Ohr – wie eine Erinnerung daran, dass jeder Schritt zählt.

Am 77. Tag, als seine Hände wund waren und seine Schuhe längst den Dienst quittiert hatten, erreichte er die Lichtung. Der Goldbaum stand da, majestätisch, still. Kein Schild, kein Applaus. Nur der Baum und seine eine Frucht – schimmernd wie ein Sonnenaufgang.

Der junge Mann pflückte sie – und in dem Moment, in dem seine Finger sie berührten, wusste er:
Nicht die Frucht war das Ziel.
Er selbst war es geworden.

Und während er lächelnd in das weiche Gold biss, hörte er eine Stimme, die aus ihm selbst zu kommen schien:
„Du warst bereit, den Preis zu zahlen. Deshalb bist du nun einer der wenigen, die wirklich wissen, was möglich ist.“

Seitdem wird die Geschichte vom Goldbaum erzählt – nicht, um Mut zu machen, sondern um daran zu erinnern, dass wahrer Lohn weder leicht noch billig noch bequem zu haben ist.

Der Preis für das, was man sich wünscht, ist oft hoch – doch der, der ihn zahlt, erntet mehr als Gold.