Dienstag, 22. Juli 2014

Wenn der ein Dichter ist

(Marie Luise Büchner)


Wenn der ein Dichter ist,
dem, wenn der Mai erblühet,
die Seele in der Brust
in Sehnsucht fast verglühet,
der seine holde Pracht,
den Jubel in den Hainen
nur leis erwiedern kann
mit schmerzlich süßem Weinen;

Wenn der ein Dichter ist,
den Ehrfurcht tief durchbebet,
wo schwindelnd groß vor ihm
sich die Natur erhebet;
dem fast der Atem stockt
und wankt des Fußes Stärke,
vor eines Genius
erhab'nem Schöpferwerke;

Wenn der ein Dichter ist,
dess' Herz in Flammen lodert,
wo Unterdrückung herrscht
und Unbill Rechte fordert,
dem nach der Feder zuckt
die Hand, wie nach dem Schwerte,
dass das Gemeine tief
von ihm gezüchtigt werde;

Wenn der ein Dichter ist,
den jede Menschenklage,
den jedes fremde Leid
trifft wie mit eignem Schlage,
der keine Träne sieht,
die er nicht mit muss weinen,
und dem der eigne Schmerz
stets doppelt wird erscheinen;

Wenn der ein Dichter ist,
dem heiß die Wange brennet,
wenn man des Vaterlands
geliebten Namen nennet,
dem das entzückte Herz
in Wonne wollt' vergehen,
wenn einmal könnte noch
er frei und groß es sehen!

Wenn der ein Dichter ist -
O, Gott - nicht kann ich spüren,
ob ich in edler Form
weiß fremdes Herz zu rühren,
ob Geister mächt'gen Schwungs
mein Geist empor kann raffen -
doch meine Seele hast
zum Dichter du geschaffen!

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