Montag, 21. Mai 2018

Der Brief der Mutter


- Erzählung nach einer wahren Geschichte
von Vitalij Polosow -

Mai 1943. An einem kühlen Tag hielt im Bahnhof Plesezkaja ein Zug. Als die Türen aufgingen, stiegen Frauen verschiedenen Alters aus: in Sommerkleidern, manche sogar barfuß. Sie ahnten gar nicht, dass hier Ende Mai noch Schnee liegen könnte. Es waren Deutsche aus Kasachstan. Sie kamen nicht aus freien Stücken hierher, sie kamen auf Beschluss der Regierung...
(Plesezker Tageszeitung, 28. Januar 2001)

Der Ort im Nordwesten Russlands, von dem obiger Zeitungsartikel spricht, ist Schauplatz einer realen Begebenheit, die Vitalij Polosow, einer der slawischen Autoren für LICHT IM OSTEN-Publikationen, zu einer Erzählung verfasste, die wir hier gekürzt wiedergeben.

Der Zug fuhr in Taintscha mit einer dreitägigen (!) Verspätung ab. Den Frauen, die am Bahnsteig im Freien auf den Zug warteten, kam dies schon als eine Erlösung vor. Körperlich und seelisch erschöpft empfanden sie diese Reise ins Ungewisse, die ihnen anfangs noch Angst gemacht hatte, nun als einen Segen. Kaum eingestiegen, fielen sie vor Müdigkeit buchstäblich um und schliefen sofort ein. Kaum jemand lief ans vergitterte Fenster, um von dem nicht gerade heimatlichen Land Abschied zu nehmen.
Aus der Ukraine, dem Wolgagebiet und dem Kaukasus verbannt, waren sie vor dem Krieg nach Kasachstan gekommen. Viele von ihnen hatten immer noch in provisorisch eingerichteten Unterkünften bei den einheimischen Kasachen bzw. in hastig ausgegrabenen Erdhütten gehaust. Und nun eine erneute Etappe. Erst unterwegs wurde ihnen mitgeteilt, dass sie in den Norden abtransportiert würden, um dort bei Archangelsk in Rüstungsbetrieben zu arbeiten.
"Na wenigstens nicht nach Tscheljabinsk. Das ist schon mal gut", atmeten sie erleichtert auf. So anspruchslos waren diese Fahrgäste.
Das schreckliche Wort "Tscheljabinsk" war überall gegenwärtig, weil die Zahl der Männer immer größer wurde, die in dieser Region bereits verschwunden waren. Die wenigen, die von dort aus der "Arbeitsarmee" entlassen wurden, starben in der Regel bald nach ihrer Heimkehr. Doch zu Hause sterben zu dürfen, ist schon an sich ein kleines Glück. Immerhin nicht in jenen namenlosen Abraumhalden, wo Menschen, vom Hunger getrieben, anfangen Gestein zu essen.

Beim Halt in Mamljutka stieg eine Frau zu. Auffallend vorsichtig hatte sie zwei Säcke in den Wagen gehoben. Tina, eine Reisende aus dem Waggon, eilte auf sie zu und griff nach einem der Säcke.
"Komm, ich helfe dir. Wir haben dort noch einen Platz frei."
"Oh, schön!", freute sich die Frau und reichte Tina aber schnell das Bündel. "Nimm lieber das hier! Die Säcke trag' ich selber." Sie trug einen Sack nach dem anderen mit  größter Vorsicht hinüber.
Das entging nicht den wach gewordenen Nachbarinnen. "Na, Mädel, hast du etwa Kristall dabei", fragte spöttisch die älteste von ihnen, Erna.
"Oder vielleicht Gold?", kicherte die jüngere, Helga.
Bei diesen Worten band die Neuangekommene die Bänder von den Säcken auf und drückte ihre Hände flehend an die Brust: "Bitte, Mädels, verratet mich nicht. Da sind meine Kinder drin."
"?!"
In der erdrückenden Stille, die daraufhin entstand, hörte sich das Rattern der Räder wie eine herannahende, zunehmende Bedrohung an. Indessen kamen aus dem ersten und dann auch aus dem zweiten Sack zwei kleine Mädchen hervor. Dem Aussehen nach waren sie ein Jahr auseinander. Sie umringten sofort ihre Mutter und hielten sich an ihrem Rockzipfel fest. Ohne einen Ton von sich zu geben, drehten sie nur ihre Kinderköpfe hin und her. In ihren Augen war jedoch keine Angst, die unter diesen Umständen eigentlich natürlich gewesen wäre. Es war eher ein Staunen: Warum schauen uns diese Tanten so merkwürdig an?
"Mutter Gottes!", bekreuzigte sich Erna. "Was hast du da gewagt! Und wenn..." - sie sprach nicht zu Ende.
"Die werden es früher oder später doch herausbekommen", warf Helga ängstlich ein. "Dann kriegen wir's alle ab." "Werden sie nicht. Wir werden sie verstecken, bis wir an Ort und Stelle sind. Und dort wird Gott schon sorgen", entgegnete Tina.
"Ja, dort komme dann, was da wolle", nickte Rosa mit dem Kopf.
"Ja, komme, was da wolle..." hallte es kaum hörbar im ganzen Wagen.

Vorgreifend können wir sagen, dass die beiden Mädchen sich so verständig zeigten, dass in diesen ganzen elf Tagen nie auch nur ein Klagewort über ihre Lippen kam, lediglich die hungrigen Äuglein verrieten den wahren Zustand der kleinen Mädchen. Sobald jemand von der Bewachungsmannschaft im Wagen erschien, verschwanden die Kinder sofort im Haufen von Bündeln.

Rosa drückte die Mädchen an sich und sagte schüchtern: "Vielleicht wird Gott wirklich alles wohl machen!?" "Wenn du beten wirst, dann wird er ganz bestimmt für die Kleinen sorgen", versicherte ihr Tina.
Ihr ruhiger Ton wurde von den Frauen unterschiedlich aufgenommen: Die einen hörten auf ihren Zuspruch, die anderen ärgerten sich darüber.
"Ja, ja, bete, hol dir bloß keine Beule dabei, wenn du deinen Kopf zum Boden neigst", brummte Erna. "Wie sollten wir uns auf Gott verlassen, wenn alles von diesen Soldaten mit ihren Gewehren abhängt? Was die Befehlshaber ihnen sagen, das tun sie auch."
Eben deswegen sollten wir auch beten, dass Gott ihre Herzen milder stimmt. Ein guter Mensch wird nichts Böses tun."
"Wieso sollten sie auf einmal gute Menschen sein? Und überhaupt: Kann denn Gott alleine auf alle aufpassen? Gut, er mag einen Menschen milder stimmen, dafür kommt aber gleich ein anderer Böser an seine Stelle. Das Böse ist schon immer da gewesen. Das Böse hat sieben Köpfe wie ein Drache: Haust du einen Kopf ab, wächst sofort der nächste nach. Nein, ein Beil kann man nicht mit einer Peitsche zerschlagen."
"Gott verändert den Menschen nicht mit der Peitsche, sondern mit Liebe", sagte Tina lächelnd. "Weil Gott selbst die Liebe ist. Und die Menschen - sie sind auch nicht aus Eisen gemacht, es sind lebendige Menschen. Durch Peitschen wird niemand gütiger, höchstens noch böser. Erweist du ihm aber Liebe, wird er sich vielleicht auch verändern."
"Ach, Mädchen", winkte Erna ab. "Du hast zu Hause bestimmt niemanden zurückgelassen, dass du solche Ratschläge gibst."
"O doch, auch ich habe Kinder zurückgelassen", seufzte Tina und streichelte zärtlich über die Köpfe der Mädchen. "Genau solche zwei Töchterchen, drei und fünf Jahre, und der älteste Junge ist 10 Jahre alt."
"Bitte verzeih mir mein dummes Gerede", seufzte Erna schwer. "Wir werden hier alle schwer gepeinigt. Aber ich verstehe trotzdem nicht, wie dein Gott aus diesen Bestien gute Menschen machen kann. Und wer von ihnen wird sich schon verändern wollen?"
"Wer Gott hören wird, der wird auch wollen. Er wird's hören und verstehen, dass er für alles, was er auf Erden tut, Rechenschaft ablegen muss. Dann wird er auch über seine sündigen Taten Buße tun, um der ewigen Verdammnis zu entkommen. Diese Furcht Gottes ist es auch, die viele Menschen davon abhält, Böses zu tun..."
"Du sprichst aber merkwürdig", meldete sich Rosa. "Wie kann man Gott hören? Würde er etwa einfach so mit uns plaudern?"
"Er spricht zu uns durch sein Wort."
"Was für ein Wort?"
"Die Bibel", sagte Tina kurz und holte etwas aus ihrem Bündel.
Viele Frauen zogen sich bei diesem Wort auf ihre Plätze zurück. Doch einige blieben und sie kamen noch öfter auf dieser Fahrt zusammen, damit sie von Tina immer und immer wieder die biblischen Wahrheiten zu hören bekamen. Durch diese Gemeinschaft wurde die beschwerliche Reise versüßt und der Hunger verdrängt. Die Zeit verging schneller.
Bereits in der zweiten Nacht wurde Tina von Rosa geweckt. Tina sah oder spürte vielmehr, dass Rosa tränenüberströmt war.
"Tina", flüsterte Rosa, "sei mir nicht böse. Ich kann nicht einschlafen. Mein Herz ist so voller Glück! Ist es vielleicht der Herr, der mich ruft? Was soll ich tun?"
Tina kniete einfach auf den Boden und zog Rosa mit sich. Sie flüsterte ihr zu: "Bete, Rosa. Der Herr hat sich dir offenbart. Bitte ihn, dir zu vergeben und dich als sein Kind anzunehmen. Halte die Worte nicht zurück, sag ihm alles, was dir auf dem Herzen liegt!"
Und schon liegt Rosa selber auf dem Boden und schüttet schluchzend ihr Herz vor dem Herrn aus. Man hört nur immer wieder: "Vergib mir, Herr, vergib mir!"
Wie ein Echo rattern die Räder im Refrain: "Vergib-vergib, vergib-vergib", und verstärken so die Wichtigkeit des Wortes und des Augenblicks.
"So ist es, Herr, so ist es", kommt es immer wieder bestärkend auch von Tina, und sie sieht, dass einige andere Frauen sich neben sie niederknien und Gott ihr Herz ausschütten.
Ein wunderschöner, einzigartiger und gesegneter Augenblick der Buße. Dank sei Gott! Die frischgebackenen Schwestern in Christus konnten in dieser Nacht noch lange nicht einschlafen.

Die anderen Frauen zogen sich von ihnen zurück. Überhaupt bevorzugten sie, sich gesondert zu halten und ihre Lebensmittel mit niemandem zu teilen. Merkwürdigerweise gehörten ausgerechnet sie später zu den ersten Opfern des Hungerregimes der Arbeitsarmee. Bereits am Ende der Reise, als die Vorräte zu Ende gingen, waren viele von ihnen in kurzer Zeit so entkräftet, dass sie am Zielort  aus dem Wagen getragen werden mussten. Und manch eine kam auch nicht wieder auf die Beine. Der Besitz von Lebensmitteln hatte ihnen einen bösen Streich gespielt. Die anderen aber, die ihr Essen mit anderen geteilt hatten und dann nichts mehr besaßen, hatten sich bereits unterwegs an den Hunger gewöhnt und konnten die Beschwernisse des Arbeitsarmee-Lebens besser ertragen. Wahrlich: "Einer teilt reichlich aus und hat immer mehr, ein anderer kargt, wo er nicht soll, und wird doch ärmer. Wer reichlich gibt, wird gelabt, und wer reichlich tränkt, der wird auch getränkt werden." (Spr 11,24.25)

Der Kommandant Iwan Karpow, ein eleganter, schneidiger Major Anfang 40, las zum x-ten Mal den Brief seiner Mutter, den er an diesem Morgen erhalten hatte. Es war eine Art Bekenntnisbrief. Allein die Tatsache, dass sie lebte, erfüllte sein Herz mit unbändiger Freude. Seit über einem Jahr, seit ihre Fabrik ins Landesinnere evakuiert worden war, hatte er nichts mehr von ihr gehört. Wie sich herausstellte, war sie in Alma-Ata bereits schwerkrank aus dem Zug geholt worden. Sie blieb am Leben, nur weil eine gläubige Pflegehelferin sie aus dem Krankenhaus zu sich nach Hause genommen hatte und seitdem pflegte.

"Sie erzählte mir von Gott", schrieb die Mutter, "und ich fand zu ihm. Und dann hörte er unsere Gebete und heilte mich. Beeile dich, den Menschen Gutes zu tun, mein lieber Sohn, so wirst du die Gebote Christi erfüllen und er wird  auch dich in seiner Gnade nicht im Stich lassen."
Es folgte ein Text aus der Bibel über die Wiederkunft des Menschensohnes in Herrlichkeit und darüber, wie der König die einen Menschen von den anderen aussondern wird.
Iwan überflog die Zeilen. Er sah nichts Ungewöhnliches darin, dass eine alte Frau zum Glauben gekommen war. In dieser schrecklichen Zeit haben sich viele, und nicht nur Alte, an Gott erinnert.
Rührend fand er ihre Bitte und die Naivität, mit der sie versuchte, ihn zu guten Werken zu animieren. "Ach, Mama", seufzte er, "wenn du wüsstest, wie wenig die Gütigkeit heute geschätzt wird. Manchmal möchte man ja gern gütig sein, aber das ist nichts für das hiesige Volk."

In diesem Moment stürzte ein aufgeregter Fahrdienstleiter, sein alter Freund Tomin, ins Zimmer. "Du, Wanja, bei uns ... da ist was los! Mit diesen deutschen Frauen ... Komm schnell, dann siehst du's selber!"
Beunruhigt eilte Karpow zum Bahnsteig. "Du meine Güte!", presste er mit heiserer Stimme hervor. "Das hat mir noch gefehlt." Zähneknirschend machte der Major einen Schritt in Richtung der Frau, und die ganze Reihe der angetretenen Frauen erstarrte.
Rosa aber drückte die Kinder an sich und sank betend auf die Knie.
Der Major blieb unschlüssig stehen. Das Bild einer betenden Frau erinnerte ihn sofort an den Satz aus dem Brief seiner Mutter und er hörte sie deutlich sagen: "Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." (Mt 25,40) Aber er hatte diesen Satz doch nur ganz flüchtig gelesen. Wie konnte er sich ihm so eingeprägt haben? Und auch die Bitte der Mutter: "beeile dich, den Menschen Gutes zu tun", bekam plötzlich einen konkreten Bezug. Dem Major wurde klar, dass diese Nachricht nicht von ungefähr ausgerechnet heute gekommen war. Jetzt, in diesem Augenblick, würde sich entscheiden, auf welche Seite ihn der König einmal stellen wird. Und im nächsten Augenblick wusste er schon, dass er dieser Frau nur Gutes tun würde. Weil er auf die Blicke der kleinen Mädchen traf und in ihren Augen eine solch unkindliche, herzbeklemmende Bitte sah, beugte er sich unwillkürlich zu ihnen herab.
"Ihr habt eure Mutter wohl sehr lieb?", fragte er nur und lächelte, als er das energische Kopfnicken der Mädchen sah. Er fasste Rosa am Ellbogen: "Steh auf, Mutter. Du hast ihre Liebe verdient."
Er blickte sich um, rief die Wachsoldaten zu sich und befahl: "Führt sie zum Intendanten. Er soll ihr ein Einzelzimmer im Wohnheim geben und auch Lebensmittelkarten für die beiden Kinder. Zum Arbeiten soll er sie für die Hauswirtschaft einteilen."

Der Major sieht, wie sich die gebückten Rücken der anderen Frauen aufrichten und wie ein glückliches Lächeln ihre Gesichter erhellt, während sie etwas flüstern. Er glaubt sogar zu wissen, was es ist. Denn er hört das Flüstern von Rosa: "Dank sei Gott, er hört uns. Möge alles nach seinem Wort geschehen!"


LICHT IM OSTEN: Mission, damit die Menschen Hoffnung haben!

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